Therapieansätze – Informationen für Fachpersonen

INFORMATIONSBLATT THERAPIEANSÄTZE (Symptom-/Funktionsgruppen) von Schwindel für FACHPERSONEN

Infoblatt in PDF

Physiotherapeutische Interventionen sind bei lage- und bewegungsabhängigem Schwindel erfolgreich und wissenschaftlich gut belegt. Aufgrund der Komplexität der neuronalen Verschaltungen (z.B. der Okulomotorik) kann eine Erkrankung unterschiedliche Symptome und Funktionsstörungen verursachen. Deshalb richtet sich das Vorgehen der Physiotherapie und des klinischen Denkprozesses mit Anamnese und Tests in erster Linie nach den vom Patienten genannten Symptomen, Einschränkungen und Funktionsstörungen. Diese werden in verschiedene Symptomgruppen eingeteilt. Diagnosen dienen dabei als Leithilfe. Aufgrund der Ergebnisse stellen wir ein individuelles Übungsprogramm zusammen und führen gezielte Behandlungen/Techniken durch. Ausserdem zeigen wir Strategien und Verhaltensmassnahmen für den Alltag. Die aktive Mitarbeit der Patienten ist unerlässlich. Das regelmässige Durchführen der Übungen und Aufgaben trägt wesentlich zur Verbesserung der Symptome und Funktionen bei.

Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPLS) – Lagerungsmanöver

Otolithen können sich in Utriculus oder Sacculus lösen und in einen Bogengang geraten (Canalolithiasis) oder an der Cupula anhaften (Cupulolithisasis). Insgesamt macht der BPLS 18% aller Schwindelformen aus. In 80% der Fälle ist der posteriore, in knapp 20% der horizontale Bogengang betroffen. In der Anamnese finden sich typische Hinweise. Bei Verdacht auf BPLS des posterioren Bogengangs wird der Dix-Hallpike-Test angewendet und bei positivem Befund das Epley- oder Semont-Manöver zur Befreiung durchgeführt. Der Pagnini-McClure-Test wird bei Verdacht auf BPLS des horizontalen Bogengangs eingesetzt und zur Befreiung das Barbecue- oder Gufoni-Manöver durchgeführt.
> Lagerungsmanöver für LINKEN hinteren Bogengang
> Lagerungsmanöver für RECHTEN hinteren Bogengang
> Lagerungsmanöver für LINKEN horizontalen Bogengang
> Lagerungsmanöver für RECHTEN horizontalen Bogengang

Peripher- oder zentralvestibuläre Dysfunktionen – vestibuläre Rehabilitation

Peripher oder zentral vestibuläre Störungen können Schwindel und assoziierte Symptome auslösen. Es handelt sich vor allem um Schwindel, der bei einer Bewegung auftritt und nach einigen Sekunden wieder vergeht. Durch individuell angepasste, wiederholte Bewegungen des Kopfes und/oder Körpers kann der Schwindel kontinuierlich verringert werden. Entscheidend ist, dass diese Bewegungen sorgfältig dosiert und mehrmals täglich durchgeführt werden. In zahlreichen Studien wurde die Evidenz für den positiven Effekt der vestibulären Rehabilitation erbracht. Oder es kann das bekannte und evidente Übungsprogramm angewendet werden:
Cawthorne Cooksey-Übungsprogramm
Cawthorne and Cooksey programme d’exercices

Okulomotorische Dysfunktionen – Blickstabilisation

Zur Blickstabilisation dienen verschiedene Reflexe (VOR, OKR, COR etc.) und Mechanismen. Unterschiedliche Ursachen und Krankheiten können zu Funktionsstörungen der Okulomotorik führen. Häufige Probleme sind Schwindel, unscharfes Sehen, Doppelbilder, das Nachlaufen von Bildern und Schwierigkeiten beim Lesen, Zug- oder Autofahren bzw. beim Gehen durch einen Gang im Supermarkt etc. Mit gezielten Tests suchen wir die Funktionsstörung und wählen die geeigneten Übungen (z.B. Fokussieren/Konvergenz, Fixieren, Blickfolge, optokinetischer Nystagmus etc.).
Optokinetisches Training
Eye can learn

Reduzierte Somatosensorik/Wahrnehmung – Stimulation/Integration

Die Somatosensorik der Füsse und Beine ist für den Erhalt des Gleichgewichts unerlässlich. Diese kann durch verschiedene Erkrankungen (z.B. Polyneuropathie) beeinträchtigt sein und dadurch Schwindel, Schwanken und Unsicherheitsgefühle auslösen. Mit Tests (z.B. Romberg-Test, Überprüfung des Vibrationssinns u.a.) wird die Hypothese bestätigt. Eine Stimulation, insbesondere der Füsse, z.B. durch gezielte Faszientechniken und Übungen, vermindert diese Symptome. Eine Wahrnehmungsschulung soll die Integration der noch vorhandenen Somatosensorik verbessern.

Visuelle Abhängigkeit – Abbau visueller Abhängigkeit

Die Verwendung visueller Fixpunkte, also das Fixieren von Punkten mit den Augen, kann zwar Schwindel und Schwanken reduzieren und Sicherheit im Alltag geben. Im Dunkeln, bei schnellen Bewegungen oder Umgebungen ohne Fixpunkte kommt es aber zu Schwindel bis hin zum Verlust des Gleichgewichts. Visuelle Fixpunkte können anfangs zwar hilfreich sein, langfristig aber zu Einschränkungen im Alltag führen. Ziel der Therapie ist es, diese visuelle Abhängigkeit abzubauen und die Sicherheit beim Stehen und Gehen langfristig zu verbessern.

Zervikogener Schwindel

In der täglichen Praxis treffen wir vier unterschiedliche Symptomgruppen der Halswirbelsäule im Zusammenhang mit Schwindel an:

  1. Ursächlich: funktionelle segmentale Instabilität – funktionelle segmentale Stabilisation

Eine funktionelle segmentale Instabilität führt beim Abliegen, Aufsitzen (v.a. nach längerer Pause), bei Kopfbewegungen usw. zu Schwindel und teilweise Übelkeit. Hier geht es darum, dass die Betroffenen lernen, die hypermobilen Wirbelsegmente mit ihren tiefen Muskeln aktiv zu stabilisieren und ihre Haltung bei Alltagsaktivitäten zu kontrollieren. Steife Abschnitte der Brustwirbelsäule werden in der Therapie mobilisiert.

  1. Ursächlich: muskulär/artikulär – manuelle Behandlung/Mobilisation

Durch Muskelverspannungen (v.a. M. sternocleidomastoideus, M. levator scapulae, M. trapezius descendens etc.), blockierte Wirbelsegmente oder degenerative Veränderungen kann Schwindel auftreten. Hier werden vor allem Muskeln und blockierte Wirbelgelenke manuell behandelt.

  1. Reaktiv: vaskulär/neurovaskulär

Der Schwindel tritt in bestimmten Kopfpositionen auf. Grund dafür ist das Abknicken/Einengen von Blutgefässen oder ein Gefäss-Nerv-Kontakt.

  1. Reaktiv: Vermeidungshaltung – vestibuläre Rehabilitation und Detonisierung

Als Folge anderer Schwindelursachen (meist periphervestibulär) kommt es zu einer Vermeidungshaltung (Vermeidung von Kopfbewegungen) und zum Hypertonus der Nackenmuskulatur und damit zu einem steifen Nacken. In erster Linie werden die Patienten mit vestibulärer Rehabilitation angeleitet, den Kopf vermehrt zu bewegen, und mit passiven Massnahmen und Techniken wird die Nackenmuskulatur detonisiert.

Artikel Hauswirth 2008
Literaturübersicht zervikogener Schwindel

Gleichgewichtsstörungen – spezifisches Gleichgewichtstraining

Bei vorhandenen Gleichgewichtsstörungen werden verschiedene standardisierte Tests (Assessments) durchgeführt, analysiert, ausgewertet und ein individuell dosiertes Übungsprogramm zusammengestellt. Durch tägliches Training wird das Gleichgewicht verbessert. Das Programm wird laufend angepasst und gesteigert.

Orthostase, Herz-Kreislauf-System – Differenzierung, Verhaltensänderungen

Beim Aufstehen morgens oder nach einer Ruhezeit, nach dem Bücken usw. kann es zu schwindelähnlichen Symptomen wie „Benommenheit“, „Schwarzwerden“ u.a. kommen. Die Aufgabe der Physiotherapie besteht darin, diese Schwindelart gegenüber anderen zu differenzieren und ein geeignetes Verhalten (z.B. Gymnastik vor dem Aufstehen, Trinkmenge etc.) zu instruieren oder die Betroffenen an die richtigen Fachpersonen weiterzuleiten.

Dosierung von Aktivität und Pausen im Alltag – Pacing

Allgemein ist Bewegung sehr wichtig, um Schwindel zu reduzieren, aber Pausen sind es ebenfalls. Bei chronischem Schwindel kann zu viel Aktivität zu einer Exazerbation der Beschwerden führen. Hier geht es darum, die Aktivitäten durch frühzeitige und sinnvoll gestaltete Pausen zu dosieren. Mit entsprechenden Verhaltensmassnahmen lernen die Betroffenen, eine Balance von Aktivität und Pausen im Alltag zu erreichen, um damit die Schwindelsymptome und -intensität zu reduzieren.

Emotionale Beteiligung – problemorientierte Beh.

Gefühle wie Angst, sich ärgern, Aufregung und Stress und andere psychische Prozesse können Schwindel verstärken oder auslösen. Dieser Schwindel kann in bestimmten Situationen oder an bestimmten Orten auftreten. In diesem Fall lernen Patienten, mit Situationen umzugehen und sich begleitet, langsam und selbstbestimmt in solche Situationen oder an Orte zu begeben. In der Therapie der vorhandenen Symptome wird v.a. auf die Selbststeuerung durch die Patienten geachtet.
Merkblatt Behandlung von Höhenschwindel für Patienten
Merkblatt Behandlung Schwindel an bestimmten Orten für Patienten

Multifaktorieller Schwindel – problemorientierte Beh, Förderung der Mobilität

Häufig treten zwei oder mehrere der oben beschriebenen Symptome gemeinsam auf. Aufgabe der Therapie ist es, die Hauptsymptomgruppe zu identifizieren, Prioritäten in der Behandlung zu setzen und die allgemeine Mobilität zu fördern. Bei Sturzgefahr werden eine multifaktorielle Sturzrisikoabklärung und Intervention durchgeführt.
Artikel Schwindel bei älteren Menschen